Der Puerto Rico Graben

Der Puerto Rico Graben
Erdbebenzone zwischen der nordamerikan. und der carib. Platte

Sonntag, 26. September 2010

Gefährliche Bruchzone

'Spiegel' vom 18. Januar 2010

Von Schmundt, Hilmar

Warum die Geologen mit einem starken Erdbeben rechneten - und trotzdem hilflos waren


Experten hatten frühzeitig gewarnt. "Alle Bedingungen kommen zusammen für ein großes Erdbeben in Port-au-Prince", hatte der emeritierte Geologieprofessor Patrick Charles aus Havanna schon vor 15 Monaten vorausgesagt: "Die Bewohner der Hauptstadt müssen sich vorbereiten auf ein Ereignis, das früher oder später eintreten wird."

Doch genau darin liegt das Problem. Früher oder später kann heißen: morgen, in einem Monat - oder erst in Jahrzehnten. Sicher war nur, dass es in Haiti irgendwann wieder mächtig knallen würde. Nur: wann genau?

"Wie sollen Menschen, die abends nicht wissen, ob sie am nächsten Tag etwas zu essen bekommen, sich auf Ereignisse einstellen, die sich in so langen Zeiträumen abspielen?", fragt Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum in Potsdam.

Auch Zschau wusste natürlich um die Gefahr aus dem Untergrund. Die Insel Hispaniola, auf der sich Haiti und die Dominikanische Republik befinden, liegt mitten auf einer tektonischen Störungszone, wo zwei Teile der Erdkruste miteinander verkeilt sind. Die Platten schwimmen auf heißem, flüssigem Gestein.

Die Nordamerikanische Platte driftet nach Westen, die Karibische Platte nach Osten. Dabei verhaken sich immer wieder Krustenteile ineinander, geraten wie ein Katapult unter Spannung - und entladen sich dann mit gewaltigen Erdstößen.

Die Rechnung der Geologen war einfach: Das letzte extrem schwere Beben ereignete sich in Haiti im Jahr 1751. Seitdem verschieben sich die beiden Platten rund acht Millimeter pro Jahr gegeneinander. Zschau: "Rein mathematisch ließ uns das eine plötzliche Verschiebung von zwei Metern erwarten, mit einem Beben ungefähr der Stärke 7."

Exakt so kam es.

"Aber eine akute Warnung an die Bevölkerung war dennoch unmöglich", betont Zschau. "Das ist der Unterschied zwischen Wetterkunde und Geologie; bei einem Erdbeben lässt sich nur die Wahrscheinlichkeit berechnen - nicht aber der Zeitpunkt."

In den siebziger Jahren habe in den Geowissenschaften noch eine große Euphorie geherrscht, berichtet Zschau. "Damals hieß es: In zehn Jahren sagen wir Erdbeben so sicher voraus wie Hurrikane. Aber das ist bis heute ein frommer Wunsch geblieben."

Auf Hispaniola gehören Beben zum Alltag - und zwar seit die Insel existiert. Sie ist überhaupt erst entstanden, weil es dort den Bruch in der Erdkruste gibt: Hispaniola wurde geboren, als ein Unterwasservulkan ausbrach. Der höchste Berg der Karibik liegt in der Dominikanischen Republik: der Pico Duarte mit gut 3000 Meter Höhe. Er wächst noch heute.

"In der Karibik besteht eines der größten Störungssysteme der Erde", erläutert Martin Meschede, Geologe an der Universität Greifswald und Mitautor des Standard-Lehrbuchs über Plattentektonik. Darin nennt er Hispaniola als Paradebeispiel für eine gefährliche Bruchzone.

Auch Meschede macht der Menschheit keine Hoffnung auf eine zuverlässige Vorhersagemethode: "Meiner Ansicht nach werden wir es derzeit nicht annähernd schaffen, Erdbeben konkret vorherzusagen - auch nicht mit den besten und aufwendigsten Methoden."

Gewaltige Beben schütteln die Insel immer wieder durch, nicht nur in Haiti, sondern auch im Nachbarland. Was das jüngste Beben so verheerend machte: Das Epizentrum lag nur etwa 20 Kilometer von Port-au-Prince entfernt. Zudem ereignete es sich in einer Tiefe von nur 10 Kilometern. Mit ungefederter Wucht schlug es aus großer Nähe in die Metropole ein. Die Stadt liegt mitten auf der gefährlichen Enriquillo-Verwerfung.

"Die Stärke des Bebens am vergangenen Dienstag war an sich gar nicht außergewöhnlich", sagt der Geologe Uri ten Brink vom United States Geological Survey. Seine aktuelle Karte zeigt starke historische Erdbeben. Die ganze Region ist übersät mit Punkten und Jahreszahlen: 1992, 1953, 1948, 1946, 1943, 1918. Das heftigste verzeichnet die Karte für das Jahr 1751: Stärke 8.

"Große Erdbeben haben die Region seit 1670 insgesamt 13-mal heimgesucht", erzählt ten Brink, "drei davon wurden von starken Tsunamis begleitet."

Und wenn es ein paar Jahre lang ruhig bleibt, ist das nicht Anlass zur Entwarnung - sondern zur Sorge.

"Vor allem die Septentrional-Verwerfung im Norden der Dominikanischen Republik ist derzeit gefährlich", sagt der US-Geologe, "dort ist nun schon seit über 700 Jahren ein großes Erdbeben überfällig."

So werden die Menschen auf Hispaniola wohl weiter einem karibischen Roulette ausgeliefert bleiben.

Seismiker warnen vor einer Serie von Nachbeben der Stärke 5 oder 6. Wenn es dann kracht in Haiti, in ein paar Tagen oder Wochen oder Monaten, wird es wieder heißen: Es gab doch Warnungen.

Ten Brink nimmt es philosophisch: "Wir Menschen sind nur Ameisen auf einer riesigen Kugel." HILMAR SCHMUNDT

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